Gedichtbände - Ver-dichtungen

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Gedichtbände

Literarische Texte
Achtersinnige Gedanken
Gedichte und Aphorismen
von Wolf Döhner
ISBN 3-86901-162-9
Engelsdorfer Verlag

Achtern ist ein norddeutscher Begriff aus der Seemannsprache. Er bedeutet so viel wie „hinten“ Am bekanntesten dürfte der Begriff „Achterdeck“ sein.

Achtersinnig wäre dann wörtlich mit „hintersinnig“ zu übersetzen. Und so sind die Gedichte auch zu verstehen. Sie scheinen oft ganz einfach daher zu kommen und enden dann ganz unvermutet in Fragen oder Wendungen, die zum Nachdenken anregen oder gar das vorher Gesagte scheinbar widerlegen.

So gesehen könnte achtersinnig auch mit „hinterhältig“ übersetzt werden.



Leseprobe



Menschen wie du und ich

Auf Bahnhöfen stehen sie,
teilnahmslos – Maschinen gleich.

Der Zug hat voraussichtlich Verspätung.
Es funktioniert doch – sie funktionieren,
wenn der Zug endlich einfährt.

Was für Fragen mag sie bewegen,
welche Schicksale lähmen?

Vorsicht bei der Abfahrt des  Zuges!




Ich bin allein

Ich bin,
denn ich leide.
Und du bist,
denn in dir sehe ich mein Leiden.
Also bin ich, weil du bist.
Deshalb bin ich allein!



Aber

Deine Umarmung ist zärtlich
wie die Wintersonne.
Sie begrüßt –
doch sie wärmt mich nicht.

Dabei spüre ich das Zittern
deines Lächelns.
Und deine nackte Haut
schreit
nach dem Schutz
des Wintermantels.



Versuch über Zufall

Zufälle gäbe es nicht, sagt man.
Doch glauben wir’s?
Dabei verrät das Wort ja selbst,
was es scheinbar zu verbergen sucht.

Was auf uns fällt,
kann doch nur fallen,
weil wir da sind.
Denn jeder Fall hat stets ein Ziel –
sonst fiel er nicht.



Jetzt

Du wünschst mir das Atmen im Jetzt.
Wie schön,
dass wir noch atmen können!
Da bleibt für das Jetzt
oft keine Zeit.



Veilchen in meiner Tasche

Vom Eise befreit,
schien es,
fuhr ich dem Frühling entgegen.

Aber ich fand nur
Blumen an Wegen
und Kinder,
die Hunde und Puppen
durch die Landschaft bewegen.

Als ich zu Haus war,
fand ich
Veilchen in meiner Tasche.



Zur Erinnerung

Je weniger man in den Wald ruft,
desto seltener schallt es zurück.

Je weniger Schall,
desto dünner die Luft.

Je dünner die Luft,
desto stirbt man.





Menschen an Tischen

Menschen an Tischen, einzeln oder zuhauf,
zufällig sind sie am gleichen Platz.
Sie sind zusammen und sind oft doch allein.
Die gleiche Sonne sticht auf sie herab.
Manche berühren sich – weltenversunken.
Manche begegnen sich mit den Augen
und sind sich doch weltenfremd.
Sie atmen die gleiche Luft,
ohne zu wissen, was sie verbindet.
Sie leben und sterben zur gleichen Zeit.
Wie das Wasser der Brunnen
erheben sie sich
und fallen zusammen,
als ob nichts gewesen wäre.
Und steigen auf zu neuem Leben,
gehen dahin – wohin?

Menschen an Tischen, jeder eine Welt für sich.
Sie nähern sich an oder bleiben allein,
verschmelzen oder erkalten.
Ihre Blicke berühren sich zärtlich,
andere starren aus Totenmasken,
können nicht sehen.
Und doch glimmt in manchen
der Funke der Hoffnung – auf Erlösung.

Menschen an Tischen.
So viel Fassade, so viel Freude –
Lebensfreude!
Und über allem ein gütiger Himmel,
der es auch regnen lässt – für kurze Zeit.
Das bringt Bewegung in das Bild,
ein Anschein von Leben.
Aber schon sitzen die ersten Sonnenbrillen
wieder fest auf der Nase.
Sie sehen auf Menschen an Tischen.
Manche sterben gerade.
Andere werden geboren
und öffnen die Augen.
In der Sonne verdampft
ihr voriges Leben scheinbar in nichts.
Sie sehen sich an
und erkennen einander – zum ersten Mal.

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