Satire u.Kurzgeschichten - Ver-dichtungen

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Satire u.Kurzgeschichten

Literarische Texte
Die Dialektik des Etwas

Sehr geehrte Damen und Herren,

Es freut mich ganz besonders, heute zu ihnen sprechen zu dürfen, weil mir das Thema, über das ich sprechen soll, gerade in diesem Rahmen sehr wichtig und hochaktuell erscheint.
Ich werde also über DIE DIALEKTIK VON ETWAS sprechen. Sie werden vielleicht einwenden, dazu bedürfe es keiner Rede, denn über ETWAS redeten Sie tagtäglich. So Recht sie damit zweifellos haben, so bedenklich erscheint es mir auch und  damit wieder beredenswert. Denn wenn sie alle so viel über und von ETWAS sprechen, drängt sich doch die Frage förmlich auf: Wo bleibt der dialektische Antipode, das NICHTS ? Es wird einfach totgeschwiegen, obwohl es doch ohne Zweifel ständig zugegen ist. Wenn heute ein Politiker ETWAS ins Mikrofon sagt, so ist er in der Regel bestrebt, ETWAS auszudrücken aber NICHTS zu sagen – oder umgekehrt.
Leider ist das menschliche Ohr dem ETWAS geneigter als dem NICHTS – obwohl dieses doch meist ebenso oder sogar noch wichtiger ist als jenes.
In dieser bedenklichen Situation scheint es mir wichtig über eine neue Redekultur nachzudenken.

Meine Damen und Herren, geben sie dem NICHTS, in dem was Sie sagen, die ihm gebührende Bedeutung. Reden sie NICHTS, sprechen sie von NICHTS, wo immer sie aufgefordert werden zu reden. Das ETWAS wird sich schon von selber einstellen.

Und da NICHTS besser haften bleibt, als das, was man selber macht, will ich NICHTS weiter dazu hinzufügen außer diesen einen Satz:

Es muss ETWAS geschehen, denn so kann es NICHT weiter gehen.



Das Largo

Nach unserer Zeitrechnung mag es es nur eine unbedeutende Anzahl von Jahren  her sein, da lebte eine Familie mit zwei Kindern irgendwo im Unterland in einem kleinen verwunschenen Häuschen. Große alte Bäume umgaben es und verliehen ihm einen etwas düsteren Anblick. Eine mächtige, wilde Hecke grenzte einen Teil des stattlichen Grundstücks gegen die Straße ab und verströmte im Sommer einen Duft von Jasmin und Dornröschen. Mehrere haushohe Birken legten im Frühling zur anderen Seite einen lichtgrünen Vorhang vor das  Haus und machten im Laufe des Jahres durch Blütenstaub und Laub jede Kehrwoche zur Farce.
So unordentlich oder gar unerträglich das Anwesen der schwäbischen Seele erscheinen mochte, so deutlich war doch zu spüren, daß es von einer Gestaltungskraft getragen wurde, die nur unwesentlich von der, der jetzigen Besitzer herrührte. Bis zu ihrem Tod hatte eine alte Frau darin gewohnt , die offensichtlich sehr viel mehr von Gartenpflege verstand, als ihre Nachfolger. Jedenfalls wuchsen auch ohne weitere Pflege die seltsamsten Pflanzen  in dem Garten  und sorgten so mit dafür, daß sich andere Gewächse und viele Tiere dort wohl fühlten. Die Leute nannten das Haus in einer Mischung aus Spott, Mißtrauen und Angst das Hexenhaus. Das störte die Familie freilich nicht, am allerwenigsten die Kinder. Für sie war es ein Paradies.
Wo sonst konnten sie so sorglos Verstecken spielen oder vom Dach der kleinen Gartenhütte die Rotkehlchen beim Brüten beobachten? Wo sonst gab es so große und süße Kirschen , von denen man sich statt des Mittagessens den Bauch vollschlagen konnte, als auf dem mächtigen alten Kirschbaum, auf dem der Vater mit Hilfe der Kinder ein winkliges Baumhaus errichtet hatte? Nur im Paradies konnte man sich Nachmittage lang nackt gegenseitig mit dem Gartenschlauch bespritzen oder ungestraft  Weinbergschnecken sammeln, um mit ihnen eine Farm im eigenen Gemüsebeet zu errichten. Und schließlich konnte nur das Paradies so wohlig warm sein, wenn man im Winter am Kamin saß, während draußen der Nordwind tobte.
An einem dieser Winterabende mag es gewesen sein, daß zwei rotbackige Schneemänner vom verschneiten Garten in die Küche stürzten, sich noch im Laufen die Schneehosen vom Leib rissen und sich teils vor Kälte, teils aus Lust am Schreien, kreischend auf die warme Ofenbank drückten.
Ersparen wir uns den ganz normalen abendlichen  Familienwahnsinn und die diversen Gefechte, bis die Kinder abgefüttert, gewaschen und zähnegeputzt im Bett liegen und richten unser Augenmerk auf den Vater. Dieser hatte seit geraumer Zeit in einer Mischung aus Lust am Fabulieren und Größenwahn begonnen, den Kindern Gute-Nacht-Geschichten zu erzählen.
Es waren Ad-hoc-Geschichten, die an Erlebtes der Kinder und eigene Erinnerungen anknüpften. Sie handelten von Maikäfern oder Schmetterlingen, die die Kinder aus einer mißlichen Lage befreit oder in einer schlichten Trauerfeier beigesetzt hatten genauso, wie von dem alten VW, der sich alleine in die Welt wagte und irgendwann merkte, daß es viel lustiger war, wenn die Kinder auf dem Rücksitz tobten, so daß er schleunigst heim in die Garage sauste, wo die Kinder ihn schon sehnlichst und mit Tränen in den Augen erwartet hatten.
Oft mußte der Vater die gleiche Geschichte mehrere Tage oder gar wochenlang wiederholen. Das ermöglichte einerseits eine gewisse geistige und schöpferische Atempause, war jedoch andererseits ständig vom kritischen Verdikt der Kinder begleitet, die jedes Wort der Geschichte kannten und nur schwer für Variationen zu erwärmen waren.
Irgendwie war nun aber auch diese Klippe umfahren worden. Der erschöpfte Vater setzte sich auf die Ofenbank , im Begriff den angewärmten Rotwein zu entkorken, als ihm eine wohlbekannte,  keineswegs müde Stimme durch den Kaminschacht entgegenscholl: Papa, flöten! Es war der Jüngste! Irgendwie mußte er Gefallen an den kläglichen abendlichen Versuchen des Vaters gefunden haben, der Flöte brauchbare Töne zu entlocken. Es war ein mühsames Geschäft, in das  dieser sich seit einiger Zeit gestürzt hatte. Ohne Anleitung aber mit einem gewissen Ehrgeiz, hatte er es nach einer Weile dazu gebracht, kurze, kleine Flötenstücke einigermaßen fehlerfrei zu spielen.
Die Stimme aus dem Kamin klang ihm jetzt jedoch keineswegs freundlich im Ohr. War da nicht ein kleiner Spott zu hören? Oder schlimmer noch , eine kleine Teufelei? Zu gut erinnerte sich der Vater an die Zeit, als er die ältere Tochter als kleines  Kind nächtelang auf dem Rücken durch das Wohnzimmer getragen hatte und bei jedem Versuch , das scheinbar friedlich schlafende Kind in sein Bett zu legen , mit ohrenbetäubendem Gebrüll daran gehindert worden war. Ja, er hatte erfahren, wie grausam Kinder sein konnten. Deutlich war ihm auch im Bewußtsein, daß er just dieses Kind aus lauter Verzweiflung im Tragekorb im Auto solange durch das nächtliche Dorf gefahren hatte, bis es endlich, endlich eingeschlafen war.
All das also ging dem Vater blitzschnell durch den Kopf  und der beunruhigende Verdacht, daß diese wache Stimme ihn lange, sehr lange würde flöten lassen. Ob es nun Resignation oder Optimismus, Freude am Flöten oder der letzte Versuch war, einen halbwegs gemütlichen Abend zu retten, ist nicht bekannt. Der Vater jedenfalls nahm seine Flöte zur Hand und spielte das Stück, das er erst kürzlich zu üben angefangen hatte: Ein Largo von Telemann.
Was dabei geschah , mögen die, die für alles eine wohlfeile Erklärung haben , erklären wie sie wollen. Für den Vater aber geschah ein Wunder. Nicht nur, daß die Musik klar und fehlerfrei erklang. Mehr noch. Es war, als verbänden sich die Töne mit dem bewegten Schatten, den die mächtige Tanne hinter dem Haus vom Straßenlicht beschienen, in die Wohnstube und das Kinderzimmer warf. Zögernd erst, dann deutlich paßte sich die Bewegung des Baumes dem Takt der Musik an .Und obwohl das Kind in einem anderen Raum lag, meinte der Vater zu spüren, wie der Schatten der Zweige den Sohn sacht in seine Arme nahm und ihn in den Schlaf wiegte.
Das Largo mußte der Vater später noch häufig spielen. So wundervoll wie in  der Nacht erklang es zwar nie wieder. Seinen Zauber aber konnte es doch noch für lange Zeit erhalten, bis dieser sich schließlich in der Götterdämmerung der herannahenden Pubertät verlor.




Gott gebe mir die Gelassenheit

Ich erwachte von einem wohligen Gefühl der Schwerelosigkeit. Die Holzdecke über mir schwamm dahin wie hellbrauner Kaffe, nachdem er sich mit der Unschuld der Milch verbunden hatte. Ich meinte den Geruch zu spüren, der diese Vereinigung begleitete. Es roch nach Aufbruch und Beginn. Langsam begriff ich, dass es Morgen war. Und während ich gemächlich aufstand und mit verklebten Augen einen letzten Blick auf den Kaffe über mir warf, fühlte ich, dass dieser Morgen etwas Besonderes war. Es war still in einer Art, die man wohl nur empfindet, wenn man noch völlig entspannt ist, den Tag und seine Geschäftigkeit noch nicht ergriffen hat. Die Heizung verströmte ihr sanftes Surren wie ein fernes Rauschen eines Wasserfalles. Leise und fast vorwurfsvoll miauend schlängelte sich die Katze um meine Füße. Sie forderte ihr Recht – und bekam es auch prompt.
In diesem Augenblick traf mich der erste volle Sonnenstrahl durch das große Fenster. Vom strahlend blauen Himmel verband er sich mit der Wärme der Heizung. In all meiner Blöße setzte ich mich ans Verandafenster und schaute hinaus in die klirrende Kälte, so wie man gemeinhin durch die Gläser eines Aquariums schaut.
Ich wusste mich ich in Sicherheit und sah mit einem Gefühl aus Lust und Bewunderung auf das äußere Leben. Ich bemerkte das Funkeln im Gras des Gartens, das sich mit jeder Minute mehr verflüchtigte. Dann die überbordende Schwere des Eises in den Blumentöpfen am Rande der Terrasse.
Eine Meise hüpfte fast greifbar vor mir auf den kahlen Ast des Sommerflieders. Was machte sie so fröhlich in all der winterlichen Kälte? Sie wippte mit dem Schwanz. Fort war sie. Zwei, drei schwarze Striche zogen durch das Bild und verweilten auf den nackten Zweigen der Kastanien hinter dem Garten. Dann flogen die Amseln weiter. Eine einsame, vermummte Gestalt passierte das Gartentor wie eine Maschine. Die Schwere ihrer Schritte stand in merkwürdigem Kontrast zu der Leichtigkeit des Dampfes, der ihrem Munde entwich. Er wehte dahin, spielte einen Augenblick mit den Sonnenstrahlen und war verschwunden. Die Maschine ging unbeirrt weiter.
Die Meise kam wieder. Oder war es eine andere? Aufmunternd blickte sie mich an, so als wollte sie sagen: Auf, was zögerst du? Hinaus mit dir!

Und wirklich machte ich mich auf. In Gedanken tauchte ich ein in das winterliche Aquarium vor mir. Ich spürte das Prickeln auf der Haut, die Nadelstiche des Eiswindes, der der Sonne zu spotten schien. Das Knirschen des gefrorenen Laubes unter meinen Füßen war der einzige Laut, der mich begleitete. Die Stadt schien noch nicht erwacht. Der motorisierte Ausdruck der Geschäftigkeit ruhte vor den Häusern auf der Straße und war mit dickem Reif überzogen. Bald würde er belustigt oder auch ärgerlich entfernt werden. Oder er würde einfach der Sonne weichen, lautlos. Aber so weit war es noch nicht. Fort ging ich, vorbei an den schlafenden Häusern.

Dort wohnte Frau A. Ihr Garten war aufgeräumt, wie stets. Denn Ordnung ist das halbe Leben. Und die andere Hälfte dachte ich?
In der Ferne ein einzelner Spaziergänger mit Hund. Vermutlich Herr S. Stets schien er getrieben. Was trieb ihn?  Sein Hund?
Mich zog es weiter, dem nahen Wäldchen zu, der die Hänge zur Stadt im Tal säumte. Auch von dort kam kaum ein Laut, nur vereinzelte Geräusche eines Autos. Dagegen aber die Symphonie der platzenden Eiskristalle auf den letzten Blättern der Bäume.
Am Aussichtsplatz über der Stadt, dort, wo die Bank steht, auf der ich im Sommer so oft saß, machte ich Halt.
Das schmale Fenster im Gezweig der Bäume um mich hatte im Sommer immer weniger Raum gegeben, auf das Leben darunter zu schauen. Nun aber schien es weit offen, so als lüfte die Stadt aus, söge sie die Frische der Morgenluft von der Höhe in sich hinein.
Große Teile der mittelalterlichen Gebäude dort unten lagen noch im Schatten. Die schmale Einkaufsstraße war menschenleer. In der Ferne die mächtige Burg des Klosters strahlte als einziges Monument im goldenen Schein der Sonne. Und auch die Spitze der alles überragenden Kirche am Markt war erwacht, leuchtete grüßend zu mir herüber und sandte mir ihr sonntägliches Geläut entgegen. Undeutlich sah ich einige Kirchgänger durch die leeren Gassen eilen. Was mochte sie bewegen? Der Ruf der Glocken? Die Einsamkeit der Herzen im Schatten des Lebens? Wo war der alte Bettler, der gewöhnlich auf der Brücke am Eingang der Stadt saß? Spürte er noch die Kälte der vergangenen Nacht auf irgendeiner Parkbank am Ufer des Flusses, der sich silbern durch die Stadt zog?

Diese und ähnliche Gedanken zogen in mir langsam und unaufhaltsam auf, wie der Frost in meine Füße – und der Zweifel. Während weit oben der milchige Dunst den erwachenden Morgen begrüßte, fragte ich mich zu welcher Welt ich eigentlich gehörte, zu der da unten oder der hier oben. Oder war da überhaupt eine Trennung möglich? Gehörten wir nicht seit Anbeginn auch zu verschiedenen Welten, die schon immer darum rangen sich zu vereinigen? Was machte mich so sicher, wirklich auf der Höhe zu sein, auf der Höhe des Lebens, der Zeit? Was gab ich als Äquivalent den Augenblicken des Glücks und der Zuversicht?

Langsam erhob ich mich und sah gerade noch das leuchtende Band der zwei Waggons des Triebwagens fast lautlos über die Eisenbahnbrücke ziehen. Erste Boten einer beginnenden Geschäftigkeit und doch verhalten, so wie der Morgen, der sich ausbreitete, als hielte er den Atem an. Als gönne er den Menschen und der Natur diesen Augenblick der Besinnung. Es war Sonntag.

Auf dem  Rückweg begegnete ich der alten Frau mit ihrem Mops. Wie immer grüßte ich und erhielt wie stets keine Antwort. War sie eigentlich noch von dieser Welt oder hielt auch sie den Atem an – so lange schon?
Durch meinen Garten flogen die ersten Spatzen mit zaghaft, fröhlichem Geschwätz. Ich sah mich am Fenster sitzen, die dampfende Kaffeetasse in der Hand.
Im Eintreten fiel der Blick auf den Spruch über dem  Klavier:
Und ich las ihn, als ob es zum ersten Mal gewesen wäre.

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden.



Copyright aller Texte : Wolf Döhner








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